Mathias Nagel M.A.: Das Schöppenbuch von Alt Jauernick/Stary Jaworów als Beispiel für ein schlesisches Dorfschöppenbuch

Dorfschöppenbücher sind für das frühneuzeitliche ländliche Milieu Schlesiens eine sehr typische Quellengattung. Im 15. Jahrhundert traten sie zunächst vereinzelt auf und waren seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in den meisten Dörfern Schlesiens allgemein üblich. Es sind Gerichtsbücher, die von einem dörflichen Schöppengericht geführt wurden, das sich aus einer variablen Anzahl von Schöppen oder Gerichtsältesten unter dem Vorsitz eines Schulzen zusammensetzte. Die Schöppen gehörten dem Bauernstand an und zählten meist zu den wohlhabendsten Hofbesitzern des Dorfes. Der Schulze betrieb oftmals zugleich den Dorfkrug, Kretscham genannt, in dem auch Gericht gehalten wurde. Er erhielt für seine Arbeit als vom Grundherren beauftragter Gerichtsschulze Erleichterungen bzw. Befreiungen von Abgaben und/oder Dienstleistungen, sowie das Recht zum Betreiben des Kretschams.

Dörfliche Schöppengerichte waren für die sog. freiwillige Gerichtsbarkeit zuständig, d.h. für Rechtsgeschäfte, welche Liegenschaften (Gebäude und Ertragsflächen) des Dorfes betrafen. Sowohl der Grundherr als auch seine bäuerlichen Untertanen hatten ein Interesse an der eindeutigen Regelung und Fixierung liegenschaftlicher Besitzverhältnisse. Hierfür stand ein bestimmtes Repertoire an Rechtsgeschäftstypen zur Verfügung, deren wichtigste kurz erläutert werden sollen:

Käufe waren Kaufverträge, mit denen ein Objekt (z.B. ein Hof) gegen Zahlung einer bestimmten Geldsumme einem neuen Besitzer übertragen wurde. Nach Zahlung eines unmittelbar fälligen Teils der Kaufsumme (als Angeld oder Geretschaft) wurden die verbleibenden Forderungen von Jahr zu Jahr an einem bestimmten Termin in Erbegeldern abgetragen. Dies konnte sich über viele Jahre oder mehrere Jahrzehnte erstrecken. Hatte ein/e Erbe/Erbin bzw. Gläubiger/in seinen/ihren Anteil vollständig erhalten, musste er/sie mit einer stereotypen Formel Verzicht leisten, d.h. endgültig jeglichen Besitzanspruch am betreffenden Objekt aufgeben. Hierbei wurden oft zugleich die bisherigen Vormünder der Gläubiger bzw. Erben in einer Lossagung ihrer Verantwortung entbunden. Tauschten zwei Personen liegenschaftliche Besitztümer miteinander (meist Bauern aus unterschiedlichen Dörfern), wurde dies Freimarkt genannt. Da die getauschten Objekte niemals genau gleichwertig waren, erhielt einer der Vertragspartner zusätzlich eine bestimmte Geldsumme. Ausgedinge waren meist Teil eines Kaufes und regelten die Altersversorgung des im verkauften Haus verbleibenden Großelternteils, die der Käufer mit übernahm. Starb ein Ehepartner und wollte sich der überlebende Ehepartner neu verheiraten, musste mit den Kindern der ersten Ehe ein Vertrag, Anschlag genannt, um das Erbe des/der Verstorbenen geschlossen werden. Käufe, Freimärkte und Anschläge durften nur mit Bewilligung des Grundherren erfolgen. Frauen benötigten bei Rechtsgeschäften einen männlichen Vormund.

Das hier publizierte Schöppenbuch stammt aus dem einige Kilometer nordwestlich von Schweidnitz/Świdnica gelegenen niederschlesischen Dorf Alt Jauernick/Stary Jaworów (siehe Kommentar zur Edition). Es umfasst die Jahre 1559-1629 und ist als Anregung für Historiker, Studierende und Interessierte gedacht, sich mit dieser bislang weitgehend ungenutzten Quellengattung auseinanderzusetzen. Allein die in diesem Schöppenbuch enthaltenen 1141 Rechtsakte bieten reichhaltige historische Informationen, die sich unter verschiedenen Aspekten auswerten lassen:

- Grundherrschaft/Gutsherrschaft/Kirche: Der jeweilige Grundherr bzw. die Grundherrin ist als Auftraggeber und oberste Instanz des Schöppengerichts in zahlreichen Rechtsakten genannt und involviert (seit 1565 Herdwig von Seydlitz auf Kratzkau; seit 1575 dessen Witwe Hedwig von Seydlitz geb. Schweintzen auf Kratzkau; seit 1588 Karl von Kittlitz der Ältere, Landvogt der Niederlausitz; seit 1604 dessen Sohn Karl von Kittlitz der Jüngere, königlicher Amtsverweser des Fürstentums Sagan; seit 1614 dessen Witwe Margaretha Rebecca von Kittlitz, geb. Freiin von Promnitz). Teilweise trat er/sie auch als Käufer und Verkäufer auf. Dadurch lassen sich Aussagen über das Verhältnis zwischen Grundherrschaft und Untertanen treffen. Ferner ist das Vorwerk von Jauernick ein detailreiches Beispiel für Gutsherrschaft (s.u.). Außerdem trat der jeweilige Pfarrer öfters als Vormund oder Vertragszeuge in Erscheinung.

- Wirtschaftsgeschichte: Das Buch gestattet detaillierte Einblicke in die Produktions- und Erwerbsformen des Dorfes bzw. der Region, wie Ackerbau, Obstanbau, Textilproduktion, Handwerk, Vieh- und Tierhaltung oder Fischwirtschaft. Exakte Preise der Grundstücke oder Höfe über mehrere Generationen dokumentieren Währungsschwankungen und Teuerungen. Für die Wirtschaftsgeschichte besonders ergiebig sind jeweils zwei Verkäufe des Kretschams (Nr. 518, 1108) sowie des Vorwerks (Nr. 239, 246).

- Sozial- und Alltagsgeschichte: Ein Großteil der Dorfeinwohner lässt sich aus dem Schöppenbuch namentlich und genealogisch erschließen. Familiäre Strukturen und Verflechtungen werden ebenso deutlich wie materiell manifestierte soziale Unterschiede, z.B. bei der Hofgröße oder in Anschlägen beim Hochzeitsaufwand und der Ausstattung von Kindern mit Kleidern. Auch die lokale und soziale Fixierung oder Mobilität von Personen ist erkennbar. Zum Beispiel entschloss sich ein Bewohner Jauernicks 1603 zur Teilnahme am Türkenkrieg (Nr. 1115), ein anderer wurde Tischler in Preußen (Nr. 1070, 1082, 1085). Außerdem liefert die Quelle einige Beispiele für Wechsel ins städtische und/oder handwerkliche Milieu (z.B. Nr. 366, 513, 653, 692). Im Bereich der Alltagsgeschichte stellen Schöppenbücher eine wichtige Quelle für die Lebensbedingungen der Landbevölkerung dar. An vielen Ausgedingen etwa lassen sich Ernährungsgewohnheiten ablesen (z.B. Nr. 586). Teilweise kann man auch über die Schulbildung der Bauern etwas erfahren (Nr. 22, 996). Manche Regelungen beleuchten den Umgang mit schwer oder dauerhaft Erkrankten bzw. Behinderten (z.B. Nr. 137). Die Arbeitsbedingungen von sog. Gärtnern (Bauern mit kleiner Ertragsfläche) werden in den bereits erwähnten Verkäufen des Vorwerks deutlich (Nr. 239, 246). Besonders ergiebig ist in dieser Hinsicht ein Kaufvertrag zwischen dem Vorwerksbetreiber Lorentz Wirt und seinen Gärtnern (Nr. 710).

- Realienkunde/Sachgüter: Es sind zahlreiche Gegenstände wie Hausinventar, Mobiliar, Betten, Kleidungsstücke, Wäsche, Textilien, Küchengeräte, Geschirr, Arbeitsgeräte usw. genannt.

- Ortsgeschichte: Zur exakten Definition der verkauften Gebäude und Grundstücke wurde ihre Lage meist genau angegeben (Beispiel: Hof B lag zwischen den Höfen A und C). Hierdurch lässt sich ein Lageplan des Ortes zur Zeit des Schöppenbuchs erstellen. Erwähnt und lokalisiert wurden z.B. auch der Pfarrhof, eine Schmiede, eine Mühle, mehrere Brunnen, der Friedhof, das Totenhaus (wohl eine Art Beinhaus) sowie Wege und Straßen.

Literatur:

- Bernhard Hinz: die Schöppenbücher der Mark Brandenburg, besonders des Kreises Züllichau-Schwiebus, Berlin 1964.
- Waldtraut Meyer: Gemeinde, Erbherrschaft und Staat im Rechtsleben des schlesischen Dorfes vom 16. bis 19. Jahrhundert dargestellt aufgrund von Schöppenbüchern an Beispielen aus Nieder- und Oberschlesien, Würzburg 1967.

Hamburg im Januar 2015.